Erfahrungsberichte

Es ist nun schon ein bisschen „wie nach Hause kommen“

Zuerst die alten ausgetretenen Steinstufen vor der Außentür – jede einzelne ist irgendwie zu hoch. Dann die schier endlos anmutende Holztreppe hinauf zum Dach, wo sich die Gruppenräume befinden…. Alles höher und mehr, als ich ohne Anstrengung gehen könnte. Da ist es gut zu hören, dass es die Anderen auch so empfinden. Die Anderen, das sind Eltern, die sich auf den Weg gemacht haben nach Bad Bevensen, um dort zusammen um die verstorbenen Kinder zu trauern. Die Anderen, das sind aber auch diejenigen, die in den Gruppenräumen auf uns warten – die Trauerbegleiterinnen. Sie erwarten uns in Räumen, die sie mit Achtsamkeit liebevoll vorbereitet und gestaltet haben. Jedes Detail ist ein sorgsam ausgesuchtes Angebot. Nichts ist zufällig, aber alles lässt den Trauernden viel Raum und die Freiheit zu wählen und dadurch den sicher und mit Genauigkeit geführten Gruppenprozess im jeweils individuellen Tempo zu wagen. Es muss die langjährige Erfahrung von Anja Wiese und dem gesamten Team sein, die die absolute Behutsamkeit in den begleitenden Worten und die durchdachte Auswahl der Texte verknüpft mit bewegenden gestalterischen Elementen.
All das, dazu die Bereitschaft, jeden von uns so anzunehmen, wie er gekommen ist, und uns als Gruppe geduldig nicht nur auszuhalten, sondern auch halten zu können, nimmt uns mit auf eine Reise zu den schmerzlich gehüteten Erinnerungen an unsere geliebten Kinder. Ich verliere das Gefühl für Zeit und vertraue mich dem an, was zwischen mir und meinem Kind geschieht.

Aufgehoben sind wir in der Gemeinschaft mit den anderen Eltern, an deren Trauer wir teilnehmen dürfen und bei denjenigen, deren Beruf ich zum ersten Mal wirklich wörtlich verstehe. Sie harren dort aus mit uns, wo wir selbst am liebsten weglaufen würden. Sie sind Trauerbegleiter, und ich ziehe meinen Hut vor der konkreten Qualität ihrer Arbeit, die sich am Ende des Seminars sehr deutlich in ihren erschöpften Gesichtern spiegelt. Ich kenne die Sorge, ob die so notdürftig verheilten Wunden nicht wieder aufgerissen werden. Die Antwort, die Kilians Vater mir auf diese Frage gegeben hat, hat mich sehr berührt:
„Die auf diese Weise gestaltete Nähe zu unseren Kindern wird durch das, was wir dort erlebt haben, so gewandelt, dass sie uns auf irgendeinem Weg wieder ins Leben führt“.
Der Blick auf andere Eltern, die auch diesen schweren Weg gehen, stärkt und verbindet. So, wie es zum Ausdruck kommt im Bericht von Renate Korntheuer. Renate trauert mit ihrem Mann Jürgen um Renates Sohn Alexander.

Jürgens kleine Tochter Maja aus erster Ehe ist vor vielen Jahren gestorben. Renate hat nach dem Besuch des Seminars für sich „den Versuch gemacht, etwas festzuhalten, damit es nicht verblasst…“ und wir dürfen diesen Text ebenso wie ein Gespräch mit Jürgen über seine Trauer veröffentlichen.
Renate schreibt: „Wir sind das vierte mal nach Alexanders Sterben im Trauerseminar in Bad Bevensen. Es ist nun schon ein bisschen wie ‘nach Hause kommen’,ja ein wenig Vorfreude ist spürbar auf ein Wochenende mit Menschen, die uns in unserer neuen Identität verstehen. Nicht abtasten müssen, ob ich Alexander erwähnen und von ihm reden darf, nichts erklären müssen, so sein zu dürfen, wie wir uns doch fühlen mit unserem toten Kind. Vorfreude, die Zeit mit Bärbel zu erleben, die uns ans Herz gewachsen ist, Bernhard und Annette, Conny und Ebby wiederzusehen, die mit uns das dritte Mal zusammen sein werden. Vorfreude auf Rituale, die uns immer bedeutsamer werden, an denen wir uns hangeln und festhalten können.

Hinzu kommt für uns: Es naht die alljährliche schmerzliche Woche des Unfallgeschehens vor Weihnachten. Drei Tage nach diesem Wochenende jährt sich der Unfalltag und am 23. Dezember Alexanders Todestag. Gerade deshalb fühlen wir uns in diesen Tagen besonders geborgen im Kreis der trauernden Eltern, werden wir doch zu Hause von einem Großteil der Verwandten und Bekannten ge- und verschont (nach dem Motto ‘nur nichts anrühren’). Dieses Mal begleiten uns Petra und August schon auf der Hinfahrt. Wir kennen uns aus der offenen Gesprächsgruppe in Münster. Und ich wünschte mir besonders für Petra, dass mein Zuspruch am Seminar teilzunehmen, gut wird. Für uns war das Zusammensein wieder ganz wichtig und wertvoll.

Es ist dieses warme Gefühl, getragen zu werden und – wie wir es jetzt nach drei Jahren erleben – auch den neuen Trauernden etwas mittragen zu können. In unserer Gruppe gab es drei Elternpaare, deren Kinder erst in diesem Jahr gestorben waren. Erinnerungen an unser erstes Teilnehmen und das Gefühl, dass der Trauerprozess schon Veränderung mitbrachte, standen nebeneinander. Neben den vielen intensiven Momenten im Schweigen, in Gesprächen, im Tun ist uns vor allem das gemeinschaftliche Erlebnis am Abend des zweiten Tages im Gedächtnis. In den sternenklaren Nachthimmel ließ jede Gruppe aus ihrer Mitte einen Heißluftballon steigen, befrachtet mit guten Gedanken und Wünschen an unsere verstorbenen Kinder.
In einer Gestaltungsarbeit schmückten wir eine Acryl- Baumkugel mit bereitgestellten Materialien und dem Foto unseres Kindes aus. So waren Alexander und Maja in unserem Wohnzimmer noch ein wenig mehr präsent an diesem Weihnachten 2007. Häufig erinnere ich mich an die Abschlussandacht in der Kapelle.
Wieder spürbar der unendliche Schmerz in mir, gleichzeitig dieses starke Gefühl, Alexander ganz nah zu sein. Wieder einmal Tränen zulassen, erschöpfend und befreiend zugleich. Auf der Rückfahrt beschleicht mich der Gedanke: ‘Wie viele Kinder leben noch im Heute und sind vielleicht im nächsten Dezember nicht mehr unter uns.’ Etwas, worüber ich früher nie nachgedacht habe.
Es ist wohl das veränderte Zeitempfinden in diesem Leben ‘danach’ in dem nichts mehr so ist, wie es einmal war.“

Jürgens Überlegungen zu meiner Frage, wie er mit seiner Trauer umgeht, gebe ich in Auszügen wieder: „Männer, die zum Trauerseminar fahren, bedienen oft nicht das Klischee vom Mann. Sie haben eine Hürde überwunden und sind oft emotional an Grenzen gestoßen. Es gibt eine wichtige Erfahrung für mich trauernden Vater: Wenn ich das Seminar verlasse, nehme ich als eine klare Botschaft mit: „Hier darf ich Gefühle zeigen, hier wird Trauer zugelassen. Im Arbeitsbereich gibt es für Männer dafür keinen Raum.“
Jürgen fasst seine persönliche Erfahrung mit der Trauer über einen langen Zeitraum zusammen: „Wenn Trauer nicht zugelassen werden darf, kann die Psyche mit der Zeit nicht mehr unterscheiden, ob man freudige oder traurige Gefühle spürt. In der Folge werden unbewusst alle Gefühle ausgesperrt”. Er selbst sagt von sich, er habe sich lange in Sachlichkeit geflüchtet. Ein in diesem Sinne funktionierender Mann werde durch die Umgebung belohnt: ”Die Menschen um dich herum danken es dir und urteilen: ‘Er hat`s gepackt’“.
Dagegen setzt Jürgen ein Erlebnis, das viele Jahre zurückliegt. Lange nach dem Tod seiner Tochter Maja nimmt er als Clown verkleidet an einer Karnevalsfeier teil. Eine Mitreferendarin kommentiert sein Outfit und sein Verhalten mit der Äußerung „Du bist aber ein trauriger Clown!“ Jürgen sagt heute dazu: „Im Nachhinein glaube ich, dass sie etwas wahrgenommen hat, was ich mich selber nicht spüren ließ. Die Trauer von damals habe ich als Vater nicht zugelassen.

In Bad Bevensen ist ein idealer Ort für mich, um das jetzt zu tun. Die Trauer zulassen zu können, hat mir sehr gut getan.“ Auf die Frage, was er mit „ideal“ meint, nennt er den Ortswechsel, das Treffen mit den Menschen, die das Gleiche erfahren haben, und dazu die Konzentration auf das eine Thema Trauer. Es macht mich gerade nach dieser Bemerkung nachdenklich, womit unser Gespräch schließt. Jürgen sagt: „Die Erfahrung, dass trauernde Eltern wieder lachen, ist eine Mut machende. Wenn jemand, der das Gleiche erlebt hat, wieder lacht, gibt das Hoffnung. Wenn in meinem Umfeld jemand sagt: ‚ihr werdet schon wieder lachen‘, dann kann ich dies nicht annehmen, wohl wissend, dass dieses Leid nicht nachzuspüren ist.“ Für mich macht Renates ‚Schlusswort‘ deutlich, dass es im Grunde nicht bedeutsam ist, ob man Mann oder Frau ist.