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Vor neun Jahren ist mein Bruder durch Suizid gestorben. Auch nach so langer Zeit kann ich nicht behaupten, den Tod meines Bruders verarbeitet und mit der Trauer abgeschlossen zu haben.

Von der Gruppe der verwaisten Geschwister habe ich vor ungefähr einem Jahr im Internet erfahren. Ich war mir zunächst sehr unsicher, ob eine Selbsthilfegruppe für mich das Richtige sein könnte.
Vor allem die Vorstellung, die ich z.B. aus bestimmten Filmen hatte, in denen man sich vor einer riesigen Gruppe vorstellt und seine Geschichte im Stehen erzählt, war eher abschreckend für mich.
Außerdem hatte ich mich, aus Angst vor erneuten möglichen Verlusten, mittlerweile schon sozial so sehr isoliert, dass ich befürchtete ich wäre nicht in der Lage, Teil einer Gruppe zu sein, in der man möglicherweise auch noch Erwartungen an mich stellen könnte, die ich vielleicht wegen meiner Verfassung nicht würde erfüllen können. Eine Vorstellung davon war z.B. dass man sich vielleicht nach dem ersten Mal schon alle Geschichten mit Namen und Geburtsdatum und Todestag merken müsste. Und das sind nur einige von vielen Bedenken und Ängsten, die ich zu Anfang hatte.

Das erste Mal, als ich zum Treffen ging, war ich sehr aufgeregt. Ich wurde sehr herzlich von allen empfangen und merkte ziemlich schnell, dass meine vielen Bedenken, die ich im Vorfeld gehabt hatte, unbegründet waren. Vor allem war ich positiv überrascht, dass es eine kleine gemütliche Runde war, in der man zu nichts gezwungen wurde. Man konnte, wenn man mochte, gar nichts sagen oder, wenn es einem zu viel werden sollte, einfach aus dem Raum gehen, ohne im Nachhinein Schuldgefühle zu haben und sich rechtfertigen zu müssen, oder zu befürchten, dass man nicht verstanden wird.

In der Gruppe kam auch mal die Frage auf, warum wir eigentlich nicht mit unseren Eltern oder verbleibenden Geschwistern über den/die Verstorbene/n sprechen und stattdessen in der Gruppe. Wenn Eltern aber mit der eigenen Trauer bereits überfordert sind, ist die Teilnahme an der Gruppe eben eine Möglichkeit, auch mit anderen betroffenen Geschwistern zu sprechen und sich auszutauschen. Oder wenn Familienmitglieder sich nicht trauen das Thema anzusprechen, weil sie befürchten dem jeweils anderen „Salz in offene Wunden zu streuen“, hat man hier eine Möglichkeit sich mit seiner Trauer auseinander zu setzen, auf die ich heute nicht mehr verzichten wollen würde.

Seit ich in dieser Gruppe bin, fühle ich mich nicht mehr merkwürdig, weiß dass es normal ist auch nach Jahren „immer noch traurig“ zu sein und weiß auch, dass man mit dem Geschwister meistens auch die Eltern auf eine Weise „verliert“ und habe mithilfe der Gruppe für mich Rituale entdeckt um meinen verstorbenen Bruder in mein heutiges Leben zu integrieren.

Mich meiner Trauer zu stellen, ist mit Sicherheit nicht immer einfach, aber mit der Unterstützung der anderen in der Gruppe, fällt es mir viel leichter. Außerdem machen mir diejenigen, die sich mit dem Thema schon länger intensiv beschäftigen und somit erfahrener sind, irgendwie Mut und zeigen mir, dass es einen Weg gibt, auch ohne meinen Bruder weiterzuleben.

X.L. (28 Jahre)